Stadtwildnis und Donauprallhangvorstadt

Kleinod an der Grenze von Erdberg und St. Marx:

Zwischen Schlachthausgasse und Südosttangente, begrenzt von Rennweg und Baumgasse, erstreckt sich ein räudiges Stück Wien, das mit Naturschönheiten und historischen Juwelen zu überraschen weiß. Eine Stadtflanerie von Anton Tantner (Text und Fotos).

Es ist ein Traumland für Stadtplanung und Grundstücksspekulation, eine Gegend, die mit klassischen Nicht-Orten wie einem unter der mehrspurigen Autobahn gelegenen Parkhaus, mit Brachflächen und Baustellen genauso aufwarten kann wie mit kommunalen und universitären Einrichtungen: Eine Kabelkühl- und Schaltanlage der Wiener Netze, die städtische Lebensmitteluntersuchungsanstalt, Veterinäramt und Vienna Biocenter sind hier versammelt, während marketingorientiertes Stadtteilbranding sich in kreativen Wortkombinationen wie Neu Marx, Media Quarter Marx, Marxbox, Marx Halle und dergleichen übt. Gemeindebauten, Pensionist_innenheime und Tennisplätze können ebenso bestaunt werden wie innovative Zwischennutzungen, hochwertige, klimaaktive Wohnanlagen und nicht zuletzt jener knallrote Doppeldecker-Bus, der etliche Jahre in der Schleifmühlgasse vor Johnny’s Pub geparkt war.

Darüber hinaus können wache Flaneurinnen und passionierte Stadtwanderer hier eine besondere Entdeckung machen, denn im nördlichen Bereich dieses Vierecks befindet sich am Beginn der Maiselgasse der Eingang zur sogenannten Stadtwildnis. Es handelt sich dabei um eine Naturlandschaft, die 1999 zugänglich gemacht wurde und von der Gemeinde Wien als ökologische Entwicklungsfläche bestimmt ist. Musterbeispiel einer jener rar gewordenen und nunmehr schützenswerten Gstettn, ist sie ein Rückzugsgebiet für aus der Stadt verdrängte Pflanzen und Tiere, Zufluchtsort streunender Katzen, deren Futterplätze von Anrainer_innen liebevoll mit Nahrung bedacht werden.

Erdberger Mais.

Die Stadtwildnis liegt auf einer Anhöhe, deren zur darunter gelegenen Hundezone zehn Meter abfallende Steilkante Donauprallhang genannt wird; die Bezeichnung erinnert daran, dass sich hier einst ein Donauarm anschmiegte, der in Form einer Schlinge das sogenannte Erdberger Mais umschloss, benannt nach einem dort ursprünglich befindlichen Jungwald («Mais»). Nach der Umwandlung in landwirtschaftlich nutzbares Gebiet legte die Erdberger Bevölkerung dort ihre Kraut- und Küchengärten an, 1726 wurde mittels eines Durchstichs der Donaukanal begradigt und in den folgenden Jahrzehnten versandete das einstige Flussbett; der Donauprallhang war damit von der Donau ein gutes Stück weit weggerückt.

Guten Ruf hatte das Gebiet keinen, befand sich dort doch das Haus des so genannten Freymanns, dessen Aufgabe die Tierkörperverwertung («Schinderey») war. Tod, Gestank und Verwesung sollten treue Begleiter bleiben, denn Mitte des 19. Jahrhunderts wurde am Gelände des heutigen Karree St. Marx der Schlachthof errichtet. Es folgten die riesigen Anlagen des Viehmarkts, von dem gegenwärtig außer der gigantischen Rinderhalle noch das Portal und einige wenige Gebäude vorhanden sind.

Östlich des von Günther Domenig errichteten T-Centers erinnert ein kurzes Gleisstück daran, dass hier einst die Schlachthausbahn das Vieh heranbrachte. Den zu einem niedrigen Preis erfolgten Verkauf des ehemaligen Bahngeländes bezeichnen Stadtplaner_innen als versteckte Unternehmensförderung. Mit Ende 1997 wurde der Betrieb des Schlachthofs und des Großteils des Fleischzentrums eingestellt, bis dahin hatte ein in der Nähe gelegener fettverarbeitender Betrieb für massive Geruchsbelästigung gesorgt.

Bier, Champignons und Panzer.

Der Donauprallhang hat auch mit einem historischen Kleinod aufzuwarten: Es befinden sich hier zwei unter Denkmalschutz stehende Überreste des Linienwalls. Dabei handelte es sich um jene ab 1704 zunächst als Erdwall, dann aus Ziegeln errichtete Grenzanlage, die die Vorstädte Wiens vor feindlichen Angriffen schützen sollte, die meiste Zeit ihres Bestehens aber als verhasste Steuergrenze diente, an deren Toren nicht nur Maut, sondern auch Zollabgaben für in das Stadtgebiet eingeführte Waren zu bezahlen waren. Der imposantere Überrest der Mauer verläuft – teilweise erneuert – entlang des als Fluchtweg bestimmten Stiegenabgangs vom Turnsaal der 1998 erbauten, auf der Anhöhe liegenden Polytechnischen Schule Maiselgasse. Zur Zeit seiner Errichtung im 18. Jahrhundert stieß der Linienwall hier auf die Donau. Der zweite Überrest liegt knapp südöstlich davon und verläuft am Rand der Hundezone den Hang entlang; letzterer Teil des Linienwalls wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet, als im Zuge der Anlage des Schlachthofs die Grenzanlage an dieser Stelle stadtauswärts verlegt wurde.

In den Donauprallhang selbst wurden Mitte des 19. Jahrhunderts mehrstöckige Keller gegraben, weswegen die Anhöhe auch als Erdberger Kellerberg bezeichnet wird. Die unterirdischen Anlagen dienten als Eiskeller der von Adolf Ignaz Mautner geführten St. Marxer Brauerei, die ihr untergäriges Bier dank neuer Verfahren fortan auch in der warmen Jahreszeit produzieren und lagern konnte.

Zur Zeit des 2. Weltkriegs wurden die Keller militärisch verwendet, belegt ist allerdings nur die Nutzung durch den Betrieb Siemens-Halske, während die sonstigen herumschwirrenden Gerüchte (selbst von Giftgas wurde gemunkelt) sich nicht bestätigen lassen. Plausibel ist allenfalls der in einem einschlägigen Online-Forum kolportierte Bericht, dass im Eingangsbereich eines der Keller bis in die 1970er-Jahre ein Panzer stand, der schließlich vom Bundesheer abtransportiert wurde. Ab 1958 wurden Gelände samt Keller von der Gewista genutzt, es folgte eine Champignonzucht und bis heute dienen Teile der Anlagen den Waffenfans des Sportschützenclubs Wien als Schießstätte.

Doch auch unbotmäßigere Zeitgenoss_innen wussten in der Vergangenheit, sich die lange Zeit nur unzureichend gesicherten Keller anzueignen: So fanden Obdachlose dort Unterschlupf, und für die Kinder der Umgebung handelte es sich um ein märchenhaftes, wiewohl gefährliches Spielparadies: «Auf der Burg» nannten sie es, und es brauchte 1981 einen aufwändigen Feuerwehreinsatz, ein abgestürztes Mädchen zu bergen.

Goa-Feeling in Erdberg.

Noch in der jüngsten Vergangenheit gingen die Eiskeller in der Geschichte der Wiener Subkultur ein, denn Anfang der 2000er stiegen dort illegale Goa-Parties, bei denen bis zu 200 Besucher_innen zur Musik der herangeschleppten Soundsysteme tanzten und eifrig psychoaktiven Substanzen zusprachen. Als 2007 das in der Simmeringer Grillgasse gelegene alternative Kulturzentrum Movimento zusperren musste (der Augustin berichtete in seiner Ausgabe Nr. 196 vom 14. 2. 2007), planten verschiedene Initiativen in Kooperation mit Gemeindevertreter_innen, das Zentrum als Eiskella wiederzubeleben und in den unterirdischen Anlagen des Donauprallhangs einzuquartieren. Das Projekt scheiterte letztendlich aber an Denkmalschutz und arbeitsrechtlichen Bedenken, und so harren die Keller, die von der Vienna Film Commission auch als Drehorte angepriesen werden, weiterhin einer sinnvollen Nutzung.