Karl Kraus, Wien und UmgebungDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 14

In den Kehrichthaufen vor der Stadt zu lesen und suchen, was den Städten fehlt, wie der Arzt aus dem Stuhlgang und Urin.

Georg Christoph Lichtenberg

Kraus is known to be one of the greatest masters of the German language. His style is of such beauty that it can be hardly equalled by any of the present-day writers in the German tongue. This should be another reason for the American reading public to acquaint itself with his works.

Chicago Daily News, 1929

Überspannen Sie nicht Ihre Frechheit die Watschen und Hundspeitschen sind für Sie reservirt um Ihnen Ihr Affengefrieß zu moderniesiren, Sie Dreckfrechling. Hüte dein Freches ungeputztes Dreck maul sonst wird es Dir zum Verhängnis werden.

Die Zeit ist eine andere geworden. Du gehörst in Affenkäfig, angehängt.

Leserbrief an die Fackel (zur Zeit von Karl Kraus Rücktrittsappell an Polizeipräsident Schober 1927), unterzeichnet: Viele Wiener aus den III. u. XI. Bezirk

Im Jahr 2004 schickte sich das Historische Museum Wien mit einer dekonstruktivistischen Ausstellung unter dem Titel Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war an, nachzuweisen, was Karl Kraus schon 1907 wusste: Ich muss den Ästheten eine niederschmetternde Mitteilung machen: Alt-Wien war einmal neu. Und doch scheint Wien immer auch schon Museum seiner selbst gewesen zu sein. Der historisch interessierte Beobachter, sensibilisiert für gesellschaftliche Dynamik sowie die ideologischen Narrative einer guten alten Zeit, die jene abfedern sollen, ist verblüfft, wenn nicht erschrocken über die Statik des Wiener Volkscharakters, wie er auch von Reisenden früherer Epochen beschrieben wurde. Während sich Gesellschaften des neuzeitlichen Europas mit atemberaubender Geschwindigkeit wandelten, so dass keine Generation mehr das Bewusstsein der vorigen richtig fassen konnte, scheint der Wiener in seiner Gemütlich-, Windig- und Behäbigkeit bis ins Mittelalter hinab der Gleiche gewesen zu sein. Karl Kraus sammelte gerne Ethnographien ausländischer Zeitzeugen und druckte 1911 eine Blütenlese daraus in der Fackel ab. Dort finden sich z. B. folgende Beobachtungen des Berliner Aufklärers Christoph Friedrich Nicolai aus dem Jahr 1781, die sich so lesen, als hätte er Kurt Palm, Stefan Weber und Franzobel bei der Beisl-Agitation erwischt: Aufklärung ist daselbst jetzt das Modewort! Was soll jetzt in Wien das Wort Aufklärung Alles bedeuten! Ein Anderer hält Wien jetzt für aufgeklärt, weil er im Kaffeehaus öffentlich über Religion spotten, auf die Geistlichkeit schimpfen und ungestraft eine Nymphe vom Graben auf seine Stube rufen darf Es folgt eine zweiseitiger Schreckensbericht darüber, was die Wiener sich den ganzen lieben Tag so in den Magen stopfen, welcher mit einem Fazit endet, das auch andere zeitgenössische Beobachter bestätigen: Sie sitzen da, als ob sie bloß zum Essen geschaffen wären. Man kann an keinem Orte so essen sehen wie in Wien

Noch immer gibt es keine Stadt in Europa, die mit so vielen Gaststätten und so viel Kultur das Blut aus den Hirnen ihrer Einwohner saugt wie Wien. Die Österreicher im Allgemeinen, die Wiener im Besonderen pflegen ein kulinarisches Verhältnis zur Kunst und ein künstlerisches zur Verdauung. Der Bürger hat Geschmack, die Kunst schmeckt schon fast so gut wie Beinfleisch, und seitdem Gedichte vomiert werden, ist das Essen ein Gedicht.

Die Fackel strotzt vor derlei satirischen Hieben auf eine wienerisch-österreichische Mentalität, die sich im halbgebildeten Mittelstand konzentriert und deren Bühne das Café ist, in dem ein grantelnder, unfähiger Oberkellner waltet, während draußen der Fiakerkutscher wartet, der den Passanten nur nicht überfährt, weil er ihn persönlich kennt. Dieses Charakterbild der Servilität und Häme, Feigheit und Larmoyanz wurde kaum je zuvor in solch grellen Farben gemalt wie von Kraus lediglich sein Vorbild Nestroy leistete mit heiterer Souveränität Vorarbeit, wenn er zum Beispiel den Herrn Gundlhuber in der Posse Eine Wohnung zu vermieten (1837) singen lässt: Das war auf der Seilerstatt wirklich a Gspaß,/ Verliert a Frau vor mir grad drei Viertling Kas, / Eine kauft einen Butter, der fallt ihr auf d Erd, / Wie der Butter hat ausgschaut, das war der Müh wert. / Ja, Spaziergäng zu machen, das ist eine Pracht, / Wenn man so den stillen Beobachter macht.

Porträtierte Felix Salten das österreichische Antlitz in seinem gleichnamigen Essayband noch liebevoll nostalgisch, so erkannte Karl Kraus darin verstärkt unter dem Eindruck des I. Weltkrieges andere Züge: Das österreichische Antlitz, schrieb er, ist kein anderes als das des Wiener Henkers, der auf einer Ansichtskarte, die den toten Battisti zeigt, seine Tatzen über dem Haupt des Hingerichteten hält, ein triumphierender Ölgötze der befriedigten Gemütlichkeit, während sich grinsende Gesichter von Zivilisten und solchen, deren einziger Besitz die Ehre ist, dicht um den Leichnam drängen, damit sie nur ja alle auf die Ansichtskarte kommen.

Kraus Wien-Satiren passen allerdings weder in Anthologien negativer Mentalitätsfolklore, noch lässt er sich als Ahnvater des morbus austriacus zitieren, an dem österreichische Künstler nach 1945 speziell für den deutschen Kulturmarkt litten.

In einem Land, dessen Kritiker eher verlorenen Söhnen gleichen, die von jenem wieder an die Vaterbrust gedrückt werden wollen und sich mit ihrem Hassobjekt in Provinzialismus verbiedern, seit der EU-Beitritt sie selbst den kritisierten Pfarrern und Bürgermeistern im Heimatmuseum hinzugesellt hat dort ließ sich das Raunzen leicht mit Gesellschaftskritik verwechseln. Thomas Bernhard, ein nobler Raunzer im Lodenmantel, veredelte die Stammtischidiosynkrasie mit gebetsmühlenhafter Monotonie zu hohem Pathos. Mit allem Raffinement sprachlicher Boshaftigkeit gibt sich auch Karl Kraus als empfindlicher Verächter österreichischen Wesens. Doch anders als Bernhard gebraucht er Sachkritik nicht zur Eruption eines wehleidigen Nihilismus, sondern mimt mitunter den Grantler, um Kritik an der Sache zu üben: Nichts da, ich bin kein Raunzer; mein Hass gegen diese Stadt ist nicht verirrte Liebe, sondern ich habe eine völlig neue Art gefunden, sie unerträglich zu finden.

Deutsche Zackigkeit versus österreichische Konturlosigkeit

Das positive Gegenbild zu Wien sieht Kraus in Berlin und im satirischen Kontrast der beiden Städte fokussiert sein ganzer Zwiespalt zwischen alter und neuer Zivilisation. Wien ist zwischen beiden hoffnungslos stecken geblieben trivialisiert die von Kraus geliebten Kulturwerte der vorliberalen und übertüncht die Geschäftsbedingungen der liberalen Epoche mit dem Zuckerguss kunsthandwerklichen Kitsches. Seine Bewohner sind lebende Artefakte eines Museums jeder für sich eine Sehenswürdigkeit. Doch die Großstadt, so Kraus, soll der Individualität eine Umgebung sein. Aber wehe, wenn sie selbst Individualität hat und eine Umgebung braucht. Da zieht er schon die seelenlose Organisiertheit und Anonymität einer modernen Großstadt wie Berlin vor, wo alle Menschen Nummern seien. Darum hat jeder die Freiheit, eine Individualität zu sein. Alles geht nach der Uhr, darum kann jeder nach seiner eigenen gehen. Ordnung macht das Leben abenteuerlich. Hierin nur hierin bejaht Kraus, dessen Zivilisationskritik mit Zivilisationsfeindlichkeit und dessen Kulturpessimismus mit Konservatismus verwechselt wurde, den technischen Fortschritt. Die Straßen Wiens sind mit Kultur gepflastert. Die Straßen anderer Städte mit Asphalt. Und: Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll, Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung und Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst. Die Klage einer Wiener Tageszeitung darüber, dass die Vibrationen der neuen Autobusse den Stuck der Gründerzeithäuser in der Praterstraße gefährdeten, war eine Gelegenheit, auf die der Satiriker nur gewartet hatte. Es könnten gar nicht genug Busse durch Wiens Straßen donnern, glossierte er, um den Ornamentenkitsch von Wiens Fassaden zu schälen, und fügte den Wunsch an, sie sollten doch bei der Gelegenheit auch gleich durch die unsäglichen Kaffeehäuser hindurchfegen, und alle Ornamente, die dort an den Wänden sitzen, und alle Bärte, die dort an den Ohren kleben, glatt mitnehmen.

Seine Idealisierung deutscher Pragmatik und Geradlinigkeit aber verflüchtigte sich spätestens im I. Weltkrieg. In deutscher Zackigkeit erkannte Kraus bald die Zacken der Rädchen, die einen zur totalitären Maschinerie gewordenen Gesellschaftskörper besser funktionieren ließen. So wandte er Berlin den Rücken zu und entdeckte im südländischen Schlendrian des provinzielleren Österreich den Keim einer betriebsstörenden Humanität wieder, den es zu düngen galt. Deutsche Humorlosigkeit hatte Kraus immer schon verachtet. Aber Wiener Hamur, Dialekt und Wesensart verachtete er noch mehr, weil in ihnen ein schöpferisches Potenzial erstorben war, welches deutsche Hochkultur weit hätte übertreffen können. Denn auf dem multikulturellen Humus des alten Österreich, zwischen dem Wildwuchs unterschiedlicher Sprachen, Identitäten und historischer Entwicklungsstufen, rankte ein besonders schlaues, versatiles Naturell hoch, dessen Befähigung zur sprachspielerischen Bewältigung einer chaotischen Realität in zwei Richtungen ausschlagen konnte: zu schmierigem Relativismus, der nichts so meint, wie er es sagt, oder einer dialektischen Artistik, die vieles zugleich sagen kann zu Windig- oder Wendigkeit. Erstere Option kristallisierte zum ostösterreichischen Volkscharakter, letztere zum Kraus zufolge größten Satiriker deutscher Sprache: Johann Nestroy.

Politische Loyalität versus Heimatliebe

Ich setze meine Feder an den österreichischen Leichnam, weil ich immer noch glaube, dass er Leben atmet. War die Feder in diesem Aphorismus ursprünglich dazu gedacht, den Gnadenstoß zu versetzen, so ließ sich mit ihr nach dem Krieg ebenso der rettende Luftröhrenschnitt vollziehen, zumal mit der I. Republik und ihrer sozialdemokratischen Regierung ein Staatswesen erwachsen war, in das Kraus all seine Hoffnungen setzte. Michael Scharang schrieb einmal, dass in der Zwischenkriegszeit nur drei Parteien an Österreich glaubten: die Monarchisten, weil sie in der Vergangenheit lebten, die Kommunisten, weil sie in der Zukunft lebten, und Karl Kraus, weil er in der Gegenwart lebte. Dessen Vertrauen in Österreich hatte aber weniger mit Heimatliebe zu tun als mit seinem Mandat an einen jungen Staat, den Dreck der Vergangenheit zu entsorgen. Die Bekämpfung des neuen Drecks sollte die Fackel bis 1936 füllen.

Die nationalsozialistische Bedrohung band Kraus noch stärker an Österreich. Seine Sympathie konnte jedoch unmöglich irgendeinem Volk gelten, auch hierin blieb er sich zeitlebens treu. Am Chauvinismus, konstatierte er, ist nicht so sehr der Hass gegen die fremden Nationen als die Liebe zur eigenen unsympathisch. Chauvinismus ließe sich hier ohne weiteres durch Patriotismus ersetzen, gleich dem Nationalismus, den er definierte als: die Liebe, die mich mit den Dummköpfen meines Landes verbindet, mit den Beleidigern meiner Sitten und mit den Schändern meiner Sprache. Seinen ideologiekritischen Scharfsinn in der Nationalitätenfrage bekundete er bereits 1899 in dem erstaunlichen Aufsatz Slovenisch-Deutsch, der mit einer Pointe anhebt, die sich andere wohl für den Schluss aufgehoben hätten, dem Nachweis nämlich, dass beinahe alle deutsch- nationalistischen Agitatoren in Kärnten slowenische Familiennamen, die meisten ihrer slowenischen Pendants indes deutsche trügen. Was folgt, ist eine luzide ethnographische Abhandlung, die in der Erkenntnis gipfelt, dass die Einwohner Kärntens, der Steiermark und Krains dieselbe gemischt-ethnische Abstammung teilten, die kulturellen Grenzen zwischen Slowenisch- und Deutschsprachigen fließend und historisch unbedeutend seien und letztlich Armut, Rückständigkeit und Unbildung sie gegeneinander hetzen ließen. Der Regierung in Wien, resümiert Kraus, liege nichts an der Behebung dieser Missstände, sie ziehe es vor, zur Erhaltung des eigenen Scheindaseins den Zündstoff für nationalistische Feindseligkeiten zu vermehren.

Karl Kraus fühlte sich nicht als Tscheche, nicht als Jude, nicht als Österreicher und schon gar nicht als Deutscher, nicht als Wiener, nicht einmal als Wiedener. Die Phrase will es, dass er die deutsche Sprache zu seiner Heimat erwählt hat, doch auch dort war er nur ein demütiger Untermieter. Viel ließe sich über seine kulturelle und geographische Verortung spekulieren, eine neumodische, hochtönende Vokabel übrigens, das so klingt, als wäre sie nur für Karl Kraus Spott erfunden worden, der Spötter selbst aber hat allen Spekulationen mit einem klaren Bekenntnis vorgegriffen:

Welche Gefühle mich mit dieser Heimat verbinden, will ihr aber ein Vogel, den sein eigenes Nest beschmutzt, in allen Variationen singen. Auf dass sie wisse: Heimat ist mir der Schreibtisch, wo immer er stehe; ein Kiefernwäldchen über einem böhmischen Teich; eine Liegestatt unter Pinien, umgeben von den blauen Wundern des Meeres, der Trauben und des Himmels; und allerorten ein Podium, auf dem Offenbach hilft, noch im Hohn der Formen einer Unterwelt Landschaft und Liebe des helleren Lebens zu ahnen. So, und nun mögen die Politiker, denen die Landstroßn ghört, es als ästhetisch verrufen; den Mist, mit dem sie das Leben verzieren, für wichtiger halten als das Leben; und den, der sie verabscheut, gern haben.

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