Wien I., StephansplatzDichter Innenteil

43. Ausfahrt

Groll stand in der Konditorei Aida am Stephansplatz an einem Stehtisch. In der Hand hielt er ein großes Glas Schnaps. Er war aus dem Haas-Haus gekommen, dessen Do-und-Co-Restaurant im Spätherbst 2005 in den beiden obersten Stockwerken nach gründlicher Renovierung neu eröffnet worden war. Grolls Ziel war nicht das Restaurant gewesen, sondern die Behindertentoilette im Keller, die seinerzeit, weil Architekt Hollein auf eine derartige Einrichtung vergessen hatte, nach Protesten der Behindertenbewegung nachträglich eingebaut worden war. Die Toilette im Haas-Haus war strategisch gut gelegen, denn sie erschloss ein ganzes Viertel der City, in der die nächste Behindertentoilette erst im Meinl-Restaurant am Graben zu finden war. Herr Dogudan, der Eigentümer des Restaurants, der derzeit in den unteren Stockwerken des Haas-Hauses ein Hotel einrichtet, befasst sich aber nicht mit derartigen Kleinigkeiten; auch seinem Innenarchitekt sind die behinderten Menschen egal, dasselbe gilt für die Wiener Baupolizei, die das Restaurant, das nach dem Generalumbau für behinderte Menschen nicht erreichbar ist, weil der Lift im Stockwerk darunter endet, und zweitens keine Behindertentoilette aufweist (die im Keller wurde ebenfalls geschlossen). So schaut die geniale Wiener Bauordnung des Jahres 2004, die Barrierefreiheit bei Neu- und Umbauten sicherstellen sollte, in der Praxis aus, dachte Groll und bewunderte die Frechheit der Stadtpolitiker, die andauernd Barrierefreiheit behaupten, wo neue Barrieren aufgetürmt werden. Diesen Gedanken nachhängend, nippte Groll von seinem Schnaps, als ein hagerer Mann auf ihn zukam.

„Ich weiß, dass Sie trinken. Aber dass Sie am hellichten Tag zum Schnaps greifen, beunruhigt mich doch. Guten Tag, geschätzter Groll!“

„Guten Tag, verehrter Dozent. Es gibt einen Grund, warum ich in der Konditorei Aida nicht etwa zu einer Cremeschnitte, sondern zu einem doppelten Vogelbeerenschnaps Zuflucht suche. Wollen Sie kosten?“

Der Dozent winkte ab und rückte näher ans Stehpult.

„Erzählen Sie!“

„Sie verfolgen die Innenpolitik genau; daher nehme ich an, dass Sie schon von dem hoffnungsvollen Jungpolitiker und nunmehrigen Chef des ÖAAB, Amon, gehört haben.“

„Er huschte mehrmals durchs Bild“, erwiderte der Dozent.

„Diese Hoffnung der österreichischen Politik hat nun den größten Ladenhüter derselben entdeckt. Den angeblichen Missbrauch und die angeblich unprofessionelle Betreuung mittels des Pflegegelds. Er will das Pflegegeld folglich abschaffen und die ÖVP-nahe Heimhilfe mit dem Geld aufmöbeln. Wenn ich noch dazu höre, dass es in der SPÖ ebenfalls Bestrebungen gibt, das Pflegegeld zu liquidieren und das Geld der Volkshilfe zuzuschanzen, wird mir schlecht.“

„Daher der Schnaps. Ich verstehe“, sagte der Dozent.

„Und wenn ich mir dann vergegenwärtige, dass ausnahmslos jede einschlägige Studie der letzten zehn Jahre zum Ergebnis kam, dass es keinen nennenswerten Missbrauch gibt, die Hilfe mit professioneller Qualität erfolgt, das Pflegegeldgesetz somit seinen Zweck hervorragend erfüllt; wenn ich weiters bedenke, dass jedes zweite Jahr brillante Politiker aufs Neue zur Treibjagd blasen und damit Hunderttausende Pflegegeldbezieher verängstigen, wird mir doppelt schlecht.“

„Daher der doppelte Schnaps.“

Groll nickte.

Der Dozent murmelte etwas vom steirischen SPÖ-Landesrat Flecker und einigen SPÖ-Gewerkschaftern, die behinderten Menschen ebenfalls den existenzwichtigen Saft abdrehen wollen.

„Keine Namen mehr, bitte. Oder ich kotze auf die Mehlspeisvitrine“, bat Groll.

Der Dozent schwieg, dann aber hatte er einen Einfall. „Die Lage ist ernst“, rief er aus. „Aber Sie stehen nicht allein!“

Groll sah verwundert auf.

„Der Behindertenstaatssekretär, Sie wissen ja, das ist der Herr mit dem slowenischen Familiennamen Dolinschek und dem gutdeutschen Vornamen Sigisbert, eröffnet eine neue Front. Er pöbelt, ganz Kärntner Weltmann, den Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes wegen einer Ortstafel an. Aber das nur, um von der neu entbrannten Pflegegelddebatte abzulenken! Ein genialer Schachzug! Und der neue Behindertenanwalt, der ehemalige Sozialminister Haupt, wirft sich mit seiner ganzen menschlichen Breite in den Kampf und unterstützt seinen Kärntner Kollegen, indem er, obwohl er sonst so viel und girlandenreich redet, alles tut, was in seinen Kräften steht: Er schweigt.“

„Ja, das Jahr der Behinderten hat sich wahrlich ausgezahlt.“

„Nicht nur das“, erwiderte der Dozent. „Es scheint, dass die Spendenbettelei von ,Licht ins Dunkel‘ die Politik, was behinderte Menschen betrifft, heller gemacht hat.“

„Ich wusste gar nicht, dass auch Sie sich zum Sarkasmus aufschwingen können“, antwortete Groll.

„Danke. Ich glaube, jetzt ist auch mir schlecht.“

Groll verzichtete darauf, den Dozenten mit der Geschichte von der fehlenden Toilette im Haas-Haus zu behelligen. Er wollte seinen Bekannten nicht überfordern. Er bestellte ein zweites Glas Schnaps. Er war nicht überrascht, als der Dozent sich ihm anschloss.

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