Wo Adler nie müde werden …! (Teil 2)Dichter Innenteil

Jovana, meine Tochter, dieses Mädchen, schon mit 10 Jahre trägt sie einen schweren Rucksack – die jetzige Gesellschaft, Schulstress, Aussehen-Stress, Buben- und Kühl-sein-Stress, Konsum-Stress und vieles andere, das in diesem Zeitalter für Aufregung sorgt. Diesen dicken Rucksack lädt sie jeden Tag bei mir aus, weil sie ihn sonst nirgendwo abstellen kann.

Illustration: Silke Müller

Diese Ladung drückt sie so aus, dass im Stiegenhaus uns fast jeder erkennt durch unsere lauten Organe. Ein großes Glück ist, dass dies ein Sozialbau ist und alle anderen auch großes Stimmvolumen besitzen, so kehrt jeder vor seiner Türe. Es gibt Zeiten, fast jeden Tag, wo wir uns streiten, meistens über unbedeutende Dinge des Alltags. Der größte Stresspegel trifft uns immer um 15 Minuten vor 8, die Zeit, zu der Jovana die Wohnung verlassen sollte. Doch ich als treue Dienerin weiche ihr nicht von der Seite. Schon müssten wir raus. Dann sitzt Jovana noch gemütlich vor dem Fernseher und wartet auf meine kreischenden Signale. Für sie ist das so wie ein lebender Wecker, die Frage ist, wie laut und oft ich das «Jovana, komm jetzt, wir kommen zu spät in die Schule! Es wird bald läuten» wiederhole, dann sollte sie sich endlich Richtung Vorzimmer begeben, die Schuhe anziehen und rausflitzen, wenn ich Glück habe, fällt ihr nicht ein, dass sie noch Ohrringe braucht, kurz rotes Lipgloss über die Lippen streicht u. s. w. Sie könnte dies alles auch ohne mich schaffen, aber warum sollte sie, sie hat doch eine Mama, die sich um alles kümmert. Dieser morgendliche Schulstress ist so ein Energiefresser. Wenn das geschieht, dann brauche ich immer eine Zeit, bis ich herunterkomme. Jovana kann nicht aus ihrer pubertären Haut heraus und ich aus meinem Klimakterium noch weniger. Wenn Wechseljahre und Jugend sich auf 45 Quadratmetern kreuzen und der Stress uns überfährt, dann kann dies zu echtem Dynamit werden. Wenn wir nicht Jesus hätten, wären wir schon längst explodiert und kilometerweit verstreut.

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Dieses so ersehnte Kind, das ich nun einmal mehr liebte als mich selber. Es stimmte mich sehr traurig, als ich immer öfter den Wunsch empfand, in Ruhe zu verweilen. Lag dies an meinem Alter, war Jovana wirklich so ein anstrengendes Kind, oder war es, weil alles immer nur auf meiner abgenützten Wirbelsäule lastete, weil das Schicksal es so wollte, oder war das meine eigene Blitzentscheidung, welche Männer ich suchte, um mich fortzupflanzen? Suchte ich bewusst Männer, mit denen ich niemals alt werden würde? Und warum forderte ich diesen beschwerlichen Weg, und was erwartete ich mir davon? Wollte ich unbewusst Krankheiten bekommen, die meinen Alltag erschweren? Bis jetzt blieb die Erkenntnis aus. War dieses Geschöpf schuld daran, dass ich in späten Jahren das dritte Kind vom dritten Vater bekam und ich zum schwarzen Schaf wurde? Dass Sara mit 9 Jahren und Sofija mit 7 Jahren beschlossen, fortan bei ihren Vätern zu wohnen und, ich plötzlich ohne meine beiden Kinder dastand und mein Mutterherz zerriss. Mein Kopfkissen war von Tränen durchnässt, als die zwei großen weißen Kinderbetten versuchten, den Raum jede Nacht zu verschlingen, ich nah an der Grenze des Wahnsinns stand und mein unsichtbarer Freund Nacht für Nacht den Raum für mich streckte, damit ich nicht in die Mäuler dieser zwei Monster hineinschlüpfte. Und diese seltsame Stille, die mir in den Ohren summte. War es dieses Gefühl, das mich so drängte, dass ich wieder wenigstens ein Bett fühlte und diesen abstoßenden Klang des Schweigens durchbreche. Oder ist Martin schuld, dass ich ihn von der Obdachlosigkeit retten wollte und vergaß, dass ich eine Frau bin und er ein Mann. Verhalf er mir meinen Muttertraum wieder zu erwecken. Er, der letzte Mann, an den ich mein weibliches Herz ausschenkte. Er, Vater von meinem geliebten, ersehnten Kind Jovana, sie meine letzte Hoffnung, die mir half, diese Betten rauszuwerfen … Bekam Martin auch eine Gelegenheit, ein besseres Leben zu führen.

Wenn ich mich in eine Furie verwandle

Dieses kleine Geschöpf, es liebte seinen Papa, selbst als er nach Kot, Urin und abgestandenem, billigem Weißwein roch. Und doch drohten ihr die letzten 5 Jahre in ihrem Gedächtnis die Form seines Antlitzes abbröckeln zu lassen, so lange ist es her, dass sie ihn das letzte Mal sah. Wenn er nur da wäre, sie zu trösten. Wenn ich es nicht tun kann, wenn ich mich in eine Furie verwandle, weil ich ihr nicht mehr geben kann, wenn ich im Bett liege und mich in Schmerzen suhle und ihr niemand einen Kakao machen kann, sie selber sich aber wehrt, dies alles zu tun. Dieser Fremde, ihr Verwandter, der zumindest im Auto schläft und nicht mehr unter der Handelskai-Brücke und sie nicht mehr wie vor langer Zeit einmal pro Jahr besuchte. Sind ihre Stimmungen aus der vaterlosen Kindheit entstanden oder wegen meiner schwarzweißen, gefalteten, müden Stirn, meinen matt-grünen, schweren Augenlidern, diesem eintönig gelangweilten und zugleich strengen Gesicht, dem sie seit einer Ewigkeit gezwungenermaßen jeden Tag begegnen muss, weil nur dies zu sehen ist. Diese Last war nicht im Rucksack auf ihrem Rücken, es strahlte heraus aus ihrer zarten Seele, aus den himmelblauen, großen, runden Fenstern. Ist dies mein Spiegel, der sich in Jovana spiegelte, ist das das Ergebnis oder warteten wir hoffnungsvoll nur auf eine neue Zeit. Wollte ich mein elendes Seelen-Wrack in jemand anderem spiegeln, jemandem, der mir vertraut war? War Jovana in den 10 Jahren zu meinem eigenem Spiegelbild geworden? Hatte ich von mir selber genug, wenn ich froh war, dass Jovana lieber in der Schule war als bei mir …

Wir könnten nur gewinnen, wenn wir die vielen schwarzen Raben wegjagten

Wen aber spiegelte ich? Die elternlosen Jahre, ehelose Vergangenheit, die egozentrische Gesellschaft … Wollte ich mit diesem armen Geschöpf mein Leid teilen, weil ich nicht stark genug bin, um alleine mein Schicksal zu ertragen … Bestrafte ich sie mit ihrem und meinem Dasein … Oder warteten wir auf jemanden, der uns diesen alten Spiegel wegnimmt, in Seide einwickelt und in eine alte Truhe vorsichtig hineinlegt und uns einen neuen Spiegel schenkt, der eine bunte Welt in sich trägt … Mit diesen alten Musterbildern befanden wir uns zur Zeit beide in einem unsichtbaren Krieg, in dem Kampf könnten wir nur gewinnen, wenn wir die vielen schwarzen Raben wegjagten, die immer wieder versuchten, ein Nest auf unseren Köpfen zu bauen. Das Traurige ist dabei, dass ein 10-jähriges Mädchen es nicht erkennt, wie ein kleines Nest droht, auf ihrem Kopf zu hausen, Raben sind keine niedlichen Vögel …

Ein Schwert halten

So muss ich für zwei kämpfen, ein Schwert halten, wo ich aber schwere und müde Hände habe. So oft war ich an der Grenze, den Adler-Zug zu wagen, hätte ich nicht die Gottesgnade für dieses Geschöpf, würde ich schon längst mich in die Lüfte emporheben … Lästig diese vielen Ästchen, die Gedanken, die den anderen verurteilen, kritisieren, das Schlechte in Menschen suchen, letztendlich so tief sich hineinbohren, dass man ein schwarzes Herz bekommt und dass Hass mit Appetit aus uns beiden strotzt … Es ist ein gefährlicher Krieg, um den zu gewinnen muss man einen demütigen Geist bekommen … Was halt oft nicht leicht ist, weil auch eine Mutter Stolz besitzt und mit knappen 50 nicht mehr diesen Elan zur Verfügung hat, und da hilft auch keine Faltencreme und kein Zellregenerator. Es ist doch leider oft die Tatsache, dass Mädchen, die pubertieren, die eigene Mutter als das größte Feindbild betrachten. Nicht immer, nur, wenn es darum geht, ihre individuellen Ideen zu verwirklichen. Ob es auch bei Buben so ist, weiß ich nicht, ich habe halt nur 3 Mädchen und muss leider feststellen, dass ich bei keinem von ihnen perfekt reagiert habe, wenn es um Grenzen-Setzen ging. Statt kühlen Kopf zu behalten, ein cholerisches Aufschreien und Rumpeltänzchen, nach diesem Akt geht der Vorhang zu, und es gibt keinen Applaus, das Publikum wirft Eier statt Rosen und statt Bravo hört man sie einen ausbuhen, zumindest fühle ich mich so danach.

Dann gehe ich vor meinem blauen Bild in die Knie, weine und bitte meinen Meister, etwas zu verändern. Mach, dass ich einfach viel ruhiger reagiere, wenn Jovana anfängt, rebellisch zu werden, ihr die virtuelle Welt verbiete, konsequent bleibe und trotzdem Sanftmut behalte, wenn sie anfängt zu spinnen, sie nicht anzubrüllen und selber ungerecht zu werden, wenn aber ich dieses Potenzial nicht besitze, möge er Jovana bessere Eltern geben, weil ich sowieso eine Versagerin bin und mich dann in den Himmel entrücke, oder er möge Jovana verändern, dass sie Tugenden bekommt, oder einfach netter, sanfter, großzügiger, verantwortungsbewusster, folgsamer, endlich selbständiger und ausgeglichener wird … Dann flüstere ich weiter, während Tränen aus schon längst vertrockneten Augäpfeln hinuntertropfen und über ein mattes, graues Gesicht rinnen, Gruben hinterlassen …

Ihre widerspenstige Natur

«Dann, Jesus, vielleicht kannst du nach 10 ehelosen Jahren einen netten christlichen Mann mir schicken, damit Jovana einen Vater bekommt und ich zum Schluss einen Mann. Du sollst ihn mir bald schicken, denn ich werde in 2 Jahren 50, dann brauche ich keinen Mann mehr, dann bin ich zu alt.» Ich fühlte mich mit 48 wie mit 68. Die vielen Krankheiten in den letzten 10 Jahren, auch Jovana, ihre körperliches Plagen und ihre widerspenstige Natur … Man braucht keine Jahre, um sich alt zu fühlen. Die vielen Erkrankungen und auch das wenige Brot machen nicht so alt und erschöpft wie die Tatsache, dass man ganz alleine mit einem Kind dasteht, dies ist die schnellste Mixtur, um alt und krank zu werden … Nicht umsonst sagt man: «Eine geteilte Sorge ist eine halbe Sorge.» Doch, wenn ich genau überlege, welcher Mann ist für mich und meine Situation geeignet – ich bin nicht mehr die Jüngste, auch meine Model-Karriere ist schon eine Ewigkeit vorbei, beim Betrachten meines Antlitzes habe ich den Eindruck, dass meine Schönheit in den 10 Jahren vom Winde verweht ist, nur ab und zu kommt sie zum Vorschein, wenn ich bunte Farben darauf lege. Meine Künstlerinnenkarriere ist auch vorbei, seit Jahren keine Ausstellungen mehr, es fehlt an Platz, Zeit und Geld … eine Frau, die seit Jahren von der MA 40 lebt – das sind keine guten Karten für eine Braut.

Für Martins Rückkehr bete ich nicht mehr. Er ist mit einem schwulen Freund nach Rom abgehaut, das letzte Mal sahen wir ihn vor 5 Jahren. Eher bekommen wir einen Lottosechser, um endlich ein Tagesheim für die Ärmsten in Serbien zu bauen, die alte, rosa, abgebröckelte Villa, die in Prćanj (Montenegro) vom Verfallen bedroht ist, zu erwerben, eine kleine Hütte in meiner Heimat Tabanović und eine Ziege zu gewinnen, als dass Martin ein Antialkoholiker wird und als verantwortungsvoller Mann zu uns zurückkommt. Was Martin betrifft, habe ich aufgehört zu träumen, begebe mich in die Realität, 10 Jahre Warten genügt.

Seltsamerweise ahnte ich den Geruch der Pinienbäume, den frischen Südwind und das Salz aus dem tintenblauen, großen See, und es schien mir, als sähe ich den Sonnenaufgang, wie er ein morgendliches Bad nimmt. Wie er mit seinen Strahlen mich emporträgt und freundlich wie ein Bräutigam flüstert: «So lange habe ich mich nach dir gesehnt», mir einen Kuss auf die roten Wangen schenkt. Wie schön ich mir auch die Hoffnung ausmale, umso unerfreulicher ist das Erwachen. Ich befinde mich noch immer auf diesem trostlosen Platz mit einem jungen, menschlichen Wesen, das sich nach Dingen sehnt, die mich schon allein beim Gedanken daran ermüden. Es heißt zuwarten und das Beste daraus zu machen. Wer weiß, vielleicht ist genau der beschwerliche Weg, der die Lebenslinie verändert, der, der mich lehrt, wie man sich in den Lüften bewegt und der uns dorthin führt, wo der Südwind nie aufhört, sanft zu wehen. Vielleicht ist es Jovana, die mir hilft, diesen Horizont zu suchen und ihn letztendlich zu finden – wo Adler nie müde werden …

Den ersten Teil der Erzählung «Wo Adler nie müde werden…» von Vera Vasiljković finden Sie in Augustin-Ausgabe Nr. 422 und hier.