«Man muss auch einfach mal behindert sein dürfen»tun & lassen

Mareice Kaiser bloggt über das Leben mit Kindern – behindert oder nicht

Inklusion, was heißt das eigentlich? Die Bloggerin Mareice Kaiser beschreibt in ihrem Buch «Alles inklusive» das Leben mit ihren Töchtern, von denen eine schwer behindert ist. Nach ihrer Lesung in Wien hat Lisa Bolyos (Text und Foto) sie zum Gespräch über Kinder, Behörden, Inklusion und Nagellack getroffen.

Was hat dich dazu veranlasst, über das Leben mit deiner behinderten Tochter zu bloggen?

Der Blog war ein erster Schritt, öffentlich zu sagen: Ich habe ein Kind mit Behinderung, und so sieht mein Leben jetzt aus. Mir ist von den ganzen Sachen, die wir erlebt haben, der Kopf geplatzt; darüber zu schreiben war total befreiend. Außerdem konnte ich so der Arbeit nachgehen, die ich liebe.

Stichwort Arbeit: Wie hast du die in Zeiten intensiver Kinderbetreuung untergebracht?

Letzten Endes habe ich es vor allem geschafft, weil mein Partner 50 Prozent – und manchmal mehr – der Carearbeit gemacht und mir Zeit für meine Arbeit zugestanden hat. Und weil ich mir ein Netzwerk von Leuten aufgebaut habe, die regelmäßig zur Betreuung unserer Tochter kamen.

Mein ursprünglicher Plan war, sechs Monate nach der Geburt unserer ersten Tochter wieder als Journalistin zu arbeiten, aber dann kam alles ganz anders, und ich habe mich erst nach der Geburt unserer zweiten Tochter für Stellen beworben. In Vorstellungsgesprächen wurde ich gefragt: Wer kümmert sich denn dann um das behinderte Kind? Da habe ich gemerkt, dass es auf dem Arbeitsmarkt für eine Mutter von zwei Kindern, eines davon mit Behinderung, ganz anders aussieht als für eine Frau ohne Kinder. Auch Mitarbeiter_innen beim Jobcenter haben mir nahegelegt, zu Hause zu bleiben, nach dem Motto: Kümmern Sie sich um Ihr Kind, Sie können dann auch in der Wohnung wohnen bleiben, dafür sorgen wir schon. Dabei geht es ja bei Inklusion auch um gesellschaftliche Teilhabe der Eltern!


In deinem Buch betrachtest du den Inklusionsbegriff kritisch: Das Jahr der Inklusion wird gefeiert, aber um den Kindergartenplatz für eure Tochter müsst ihr kämpfen.

Ich bin ein großer Fan von dem Wort und keine Freundin davon, nach immer neuen Worten zu suchen. Man verliert sich in Diskussionen, statt dafür zu kämpfen, dass etwas umgesetzt wird. Entsprechende Gesetze können sehr hilfreich sein. Ein Beispiel: Bei meiner letzten Lesung in einem Kontext, der sehr um Inklusion bemüht war, fehlte aus Kostengründen die Gebärdensprachdolmetschung. Ich bin für radikale Inklusion, und finde, es müsste ein Gesetz geben, das besagt: Es darf keine Veranstaltung ohne Gebärdensprache geben. Kosten dürften gar kein Argument sein, sondern umgekehrt: Wenn nicht alle teilhaben können, findet die Veranstaltung halt nicht statt. Ich glaube, wenn man damit einfach mal loslegen würde, würden sich solche Dinge mit der Zeit einspielen: Es gäbe eben einen größeren Bedarf an Gebärdensprachdolmetscher_innen, das wäre ein beliebterer Beruf, mehr Leute würden ihn erlernen. Inklusion ist für viele ein Thema, bei dem es um Menschen mit Behinderung geht, aber es geht tatsächlich um uns alle.

Erzähl doch mal von eurer ersten Tochter. Was für ein Charakter war sie?

Da fallen mir viele Worte ein. Voller Widersprüche? Auf der einen Seite war sie sehr entspannt, auf der anderen auch verspannt, wenn irgendwas nicht in Ordnung war; sehr fröhlich, aber auch sehr angepisst, wenn es ihr nicht gut ging. Willensstark. Oder auch stark. Ganz fragil und ganz stark.

Du schreibst, sie sollte manchmal auch «einfach Kind sein» dürfen.

Sie war ja nicht nur «das behinderte Kind», sondern auch einfach «das Kind». So wie wir auch Eltern geworden sind und dieselben Eltern-Issues wie alle hatten, nur halt noch zusätzliche.

In ihren Behandlungen musstet ihr immer wieder abwägen zwischen der medizinischen Unterstützung, die notwendig war, und der Optimierung, die euch nahegelegt wurde. Wie entscheidet man, was für ein Kind gut ist?

Das Kinder-Optimieren trifft auch die Kinder ohne Behinderung – sei es mainstreamkonform oder das Gegenteil: Mein Kind soll auf die freieste Schule überhaupt gehen und so revolutionär wie möglich sein! Ich finde es sehr befreiend, dass ich diese Jahre mit meiner Tochter erleben konnte, die, auch wenn sie natürlich Fortschritte gemacht hat, fernab von allen Optimierungen war. Es geht darum, anzunehmen, was ist; nicht immer besser und schneller sein wollen, sondern vielleicht auch einfach mal behindert sein dürfen.

In der Schulmedizin haben wir reichlich schlechte Erfahrungen damit gemacht. Da war etwa eine Ärztin, die den Darm unserer Tochter operieren sollte und nach der Untersuchung ihrer Ohren kommentierte: ‹Hier könnte ich auch noch ein bisschen was schneiden und da auch, und dann hätte sie ganz normale Ohren.›


Sie hat eine Schönheitsoperation vorgeschlagen?

Ja. Zusätzlich war jede Narkose für meine Tochter lebensgefährlich – so etwas vorzuschlagen, war einfach irre. Der Optimierungswahn hört also durchaus nicht bei lebenswichtigen Verbesserungen auf.

Ein viel diskutiertes Thema im Kontext von Behinderung und Medizin ist die Pränataldiagnostik. Wir sind weit entfernt von einem Konsens darüber, dass ein behindertes Kind auch einfach ein Kind ist.

Ich glaube, es fehlt einfach an Aufklärung. Mir sind zwei Sachen wichtig: dass ich absolut keiner Frau in keiner Lebenslage das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch absprechen möchte; und dass ich auch die Frage stellen will, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Ich glaube, dass jede Entscheidung für oder gegen Pränataldiagnostik und in Folge für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch dazu beiträgt, unsere Gesellschaft zu verändern. Im Moment ist es mehr oder weniger Konsens, dass Kinder mit Down-Syndrom nicht zur Welt kommen, deswegen gibt es diese nicht-invasiven Tests, und neun von zehn Frauen entscheiden sich bei der Diagnose Down-Syndrom für einen Schwangerschaftsabbruch. In 50 Jahren ist es vielleicht nicht mehr das Down-Syndrom, sondern die Anlage für irgendeine Krankheit – Multiple Sklerose? Und in 80 Jahren sagt man vielleicht bei Neurodermitis, das kann man dem Kind nicht zumuten und uns auch nicht, und diese Kosten für die Krankenkasse, die sind einfach zu hoch.

Die Down-Syndrom-Feindlichkeit scheint überhaupt die Königsdisziplin der Pränataldiagnostik zu sein – warum?

Ich glaube, weil Menschen das halt kennen. Eltern von schwer mehrfachbehinderten Kindern betrachten das Down-Syndrom augenzwinkernd als Luxusbehinderung à la: ‹Die können gar nicht mitreden!› Was natürlich Unsinn ist; aber was am Down-Syndrom das Problem sein soll, kann ich dir auch nicht sagen.

Eine Sache, mit der du zu kämpfen hattest, war die Ablehnung, die deine Tochter erfahren hat.

Ich habe auf Ablehnung ganz unterschiedlich reagiert, manchmal auch zynisch. Zum Beispiel habe ich dann gern von meinem «schwerst-mehrfachbehinderten Kind» gesprochen, einfach so als Schocker, wenn sich jemand noch nicht mal getraut hat, das Wort «behindert» zu sagen. Aber ich war nicht immer stark. Es gab auch Tage, an denen ich mit meiner Tochter nicht rausgehen wollte, weil ich zu dünnhäutig war, um wieder irgendeinen blöden Spruch zu kassieren.

In deinem Buch entwirfst du das Jahr 2025, in dem alles gut ist. Ich würde es gern reformistischer halten: Welche strukturellen Verbesserungen wären jetzt sofort möglich?

Es bräuchte etwas, das gebracht wird und nicht geholt werden muss. Es braucht Menschen, Institutionen, Strukturen, die schauen: Was braucht die Familie, damit sowohl das Kind als auch die Geschwister und Eltern am gesellschaftlichen Leben teilhaben können? Ich bin sicher, dass das sogar finanziell aufgehen würde. Wenn ich daran denke, was für ein bürokratischer Aufwand in den vier Jahren um unsere Tochter betrieben wurde, wie viele Sachbearbeiter_innen involviert waren und wie viel Post wir bekommen haben! Das könnte man sich alles sparen. Und es wäre auch ein ganz anderes Gefühl, wenn du nicht kleingemacht wirst, weil du um etwas bitten musst, sondern dir das ganz selbstverständlich gegeben wird, weil du ein Recht darauf hast. Nicht nur im medizinischen Kontext, sondern auch bei Kinderbetreuung und Schule.

Deine erste Tochter ist als kleines Kind gestorben. Wie trauert man um ein Kind?

Für mich ist es ein Privileg, dass sie da war, und es ist auch ein Privileg, über sie sprechen zu dürfen – auf meinem Blog, bei Lesungen oder jetzt mit dir. Trauern ist etwas wahnsinnig Individuelles. Entscheidend ist die Persönlichkeit der trauernden Person, nicht wie alt das Kind geworden ist oder ob es behindert war oder nicht.

Es gibt Leute, die zu Hause so etwas wie einen Altar haben für ihre Kinder, manche haben das nicht, es gibt welche, die jeden Tag zum Grab ihres Kindes gehen, manche machen das nicht. Und es gibt viele Klischees, wie Trauer auszusehen hat und wie eben auch nicht. Als ich vier Wochen, nachdem meine Tochter gestorben war, auf dem Weg ins Büro war, hat eine Nachbarin beinahe vorwurfsvoll gefragt: ‹Was, du gehst schon wieder arbeiten?› Und ich war so froh, dass ich es konnte.

Da spielt auch ein bestimmtes Bild von Mutter mit, dem du entsprechen sollst.

Mich hat das an eine Begebenheit erinnert, als meine Tochter noch gelebt hat. Ich hatte ein Foto auf meinem Blog veröffentlicht, auf dem man meine lackierten Fingernägel sieht, und eine Frau hat kommentiert: ‹Wann hast du denn noch Zeit, dir die Fingernägel zu lackieren?!› Seitdem höre ich mit dem Lackieren gar nicht mehr auf.